Monströse Behauptungen :: Das Glück ist mit den Mutigen
Der folgende Buchauszug, der meiner Empfindung nach auch gut zu aktuellen Geschehnissen passt, ist nicht unbedingt die leichteste Lektüre, wenn man etwas tiefer in diese Welt hinein fühlt. Ansonsten wird man den Versuch, ein über das Bekannte hinaus gehendes Wissen zu vermitteln, eher strikt von sich weisen.
Das Leben eines Menschen ist potentiell sehr reich, aber auch gefährlich, ist dieser Mensch feinfühlig und gleichzeitig noch mutig genug, das Wahrgenommene auch anzusehen und zu ertragen. Denn wer sieht, wird auch gesehen.
Diese Welt mit ihren oberflächlig chaotisch oder gar sinnlos erscheinenden Ereignissen ist nicht das, was uns Menschen ausmacht oder uns gerecht wird.
Ist unsere Welt im Wandel oder nur in einem Zyklus gefangen? Oder gibt es gar kein “oder”, und das Erwachen ist ein integraler Bestandteil des Zyklus’ ? Wenn wir über ein kollektives Erwachen sprechen wollen, dann kann es nicht schaden, den Zustand eines (noch) weithin vorherrschenden, kollektiven Schlafzustandes, unsere Rolle dabei und dieses “Etwas”, das uns am Erwachen hindern will und warum, besser zu begreifen.
Bekanntermaßen kann eine Wahrheit manchmal ebenso schlicht wie monströs sein. Und zumindest ist eines wohl den meisten Menschen bereits klar: Feigheit ist die beste Garantie dafür, dass nichts besser wird.
Fortes fortuna adiuvat – Das Glück ist mit den Mutigen.
Buchauszug:
(…)
»Das ist absurd! Was du sagst, ist ungeheuerlich. Es kann einfach nicht wahr sein,
weder für Zauberer noch für normale Menschen noch für irgend jemanden.« »Warum
nicht?« fragte Don Juan ruhig. »Warum nicht? Weil es dich wütend macht?«
»Jawohl, es macht mich wütend«, erwiderte ich. »Diese Behauptungen sind
monströs!«
»Nun ja«, sagte er, »du hast noch nicht alle Behauptungen gehört. Warte ein bißchen
länger, und du wirst sehen, was du dann fühlst. Ich werde dich einem Blitzangriff
aussetzen. Das heißt, ich werde deinen Verstand bombardieren, und du wirst nicht
aufstehen und gehen können, weil du gefangen bist. Nicht, weil ich dich
gefangenhalte, sondern weil etwas in dir dich am Gehen hindern wird, während ein
anderer Teil von dir tatsächlich in Raserei gerät. Also mach dich darauf gefaßt!« In
mir gab es etwas, das, wie ich fand, unersättlich nach Bestrafung gierte. Er hatte
recht. Ich hätte nicht um alles in der Welt das Haus verlassen. Und doch gefiel mir
der Unsinn, den er von sich gab, keineswegs. »Ich wende mich an deinen
analytischen Verstand«, sagte Don Juan. »Denk einen Augenblick nach und sag mir,
wie du den Widerspruch zwischen der Intelligenz des Menschen als Techniker und
der Dummheit des Systems seiner Überzeugungen erklärst oder der Dummheit
seines widersprüchlichen Verhaltens. Die Zauberer glauben, daß die Räuber uns das
System unserer Überzeugungen, unsere Vorstellung von Gut und Böse, unsere
gesellschaftlichen Sitten gegeben haben. Sie bringen unsere Hoffnungen und
Erwartungen hervor und unsere Träume von Erfolg oder Versagen. Von ihnen
stammen Verlangen, Gier und Feigheit. Die Raubwesen sind es, die uns zufrieden
und egoistisch und zu Gewohnheitstieren machen.«
»Aber wie können sie das tun, Don Juan?« fragte ich, irgendwie noch mehr verärgert
über das, was er sagte. »Flüstern sie uns das alles ins Ohr, während wir schlafen?«
»Nein, so geschieht das nicht. Das ist idiotisch!« sagte Don Juan lächelnd. »Sie sind
unermesslich viel effizienter und systematischer. Um uns gehorsam, demütig und
schwach zu halten, haben die räuberischen Wesen zu einem ungeheuerlichen
Manöver gegriffen – ungeheuerlich natürlich vom Standpunkt eines Kampfstrategen.
Und es ist ein schreckliches Manöver vom Standpunkt derer, die darunter leiden. Sie
haben uns ihr Bewusstsein gegeben! Verstehst du? Die Räuber geben uns ihr
Bewusstsein, das unser Bewusstsein wird. Ihr Bewusstsein ist verschlungen,
widersprüchlich, verdrießlich und von der Angst erfüllt, jederzeit entdeckt zu werden.
Ich weiß, du hast zwar nie Hunger gelitten«, fuhr er fort, »aber trotzdem hast du
Angst um deine Nahrung. Und das ist nichts anderes als die Angst des Räubers. Er
fürchtet, seine Machenschaften könnten jeden Moment aufgedeckt und ihm dadurch
die Nahrung entzogen werden. Durch das Bewusstsein, das schließlich ihr
Bewusstsein ist, lassen die Raubwesen in das Leben der Menschen einfließen, was
immer vorteilhaft für sie selbst ist. Auf diese Weise erreichen sie ein gewisses Maß
an Sicherheit, die als Schutzwall vor ihren Ängsten steht.«
»Es ist nicht so, Don Juan, daß ich das nicht alles für bare Münze nehmen kann«,
sagte ich. »Das könnte ich, aber es hat etwas so Ekelhaftes an sich, daß es mich
abstößt. Es zwingt mich zum Widerspruch. Wenn es wahr ist, daß sie uns fressen,
wie tun sie es?«
Don Juan lächelte. Er freute sich königlich. Er erklärte, daß die Zauberer
Menschenkinder als eigenartige, leuchtende Energiebälle sehen, die völlig von einer
glänzenden Hülle bedeckt sind, so etwas wie einem Plastiküberzug, der eng an
ihrem Energiekokon anliegt. Die Räuber verschlingen diese leuchtende Hülle des
Bewusstseins. Zum Zeitpunkt, an dem der Mensch erwachsen wird, ist von der
leuchtenden Hülle des Bewusstseins nur noch ein schmaler Rand übrig, der vom
Boden bis über die Zehen reicht. Dieser Rand ermöglicht es den Menschen gerade
noch, am Leben zu bleiben.« Wie im Traum hörte ich, wie Don Juan erklärte, daß
sich seines Wissens beim Menschen als einziger Spezies die leuchtende Hülle des
Bewusstseins außerhalb des leuchtenden Kokons befindet. Deshalb werde der
Mensch zur leichten Beute für ein Bewusstsein anderer Ordnung, wie dem
schwerfälligen Bewusstsein der Räuber. Darauf folgte eine Aussage, die
vernichtender war als alles, was er jemals zuvor geäußert hatte. Er sagte, dieser
schmale Rand des Bewusstseins ist das Epizentrum der Selbstreflexion, in dem der
Mensch unabänderlich gefangen ist. Dadurch, daß die räuberischen Wesen mit der
Selbstreflexion ihr Spiel treiben, bewirken sie ein momentanes Aufflackern des
Bewusstseins, das sie dann rücksichtslos und räuberisch verschlingen. Sie legen uns
alberne Probleme vor, die das Bewusstsein zum Aufflackern zwingen. So halten sie
uns am Leben, damit die energetischen Flammen unserer Pseudoprobleme sie
ernähren.
Etwas an dem, was Don Juan sagte, musste so niederschmetternd gewesen sein,
daß mir an diesem Punkt tatsächlich übel wurde.
Nach einer Pause, die gerade lang genug war, um mich wieder zu erholen, fragte ich
Don Juan: »Wie kommt es, daß die Zauberer im alten Mexiko und die heutigen
Zauberer die Raubwesen sehen, aber nichts dagegen unternehmen?«
»Es gibt nichts, was du und ich dagegen tun können«, erwiderte Don Juan ernst und
traurig. »Wir können uns nur so weit selbst disziplinieren, daß sie uns nicht anrühren.
Wie könntest du von deinen Mitmenschen verlangen, sich einer so rigorosen
Disziplin zu unterwerfen? Sie würden lachen und dich verspotten, und die
aggressiveren unter ihnen würden dich halb totprügeln. Aber weniger deshalb, weil
sie dir nicht glauben würden, denn jeder Mensch trägt tief im Innern ein ererbtes
Bauch-Wissen von der Existenz der Räuber in sich.« Mein analytischer Verstand
verhielt sich wie ein Jo-Jo. Er war da, verschwand, kam wieder, verschwand und kam
wieder. Was Don Juan behauptete, war absurd, unglaublich. Gleichzeitig war es so
einfach, es war das Vernünftigste überhaupt. Es erklärte jede Art menschlicher
Widersprüche, die ich mir vorstellen konnte. Aber wie konnte man das alles ernst
nehmen? Don Juan stieß mich in die Bahn einer Lawine, die mich auf immer in die
Tiefe reißen würde.
Mich überkam die Woge einer bedrohlichen Empfindung. Die Woge stieg nicht in mir
auf, doch sie war mit mir verbunden. Don Juan tat etwas geheimnisvoll Positives und
gleichzeitig schrecklich Negatives mit mir. Ich empfand es als den Versuch, eine
dünne Membrane zu zerschneiden, die an mir zu kleben schien. Er blickte mir
unverwandt und ohne zu blinzeln in die Augen. Dann wandte er den Blick ab und
begann zu sprechen, ohne mich noch einmal anzusehen.
»Wann immer dich Zweifel bis an einen gefährlichen Punkt plagen«, sagte er, »tu
etwas Pragmatisches dagegen. Schalte das Licht aus. Ergründe die Dunkelheit und
finde heraus, was du sehen kannst.«
(…)
Auszug aus “Flüchtige Schatten” (“Schlammschatten”) in “Das Wirken der Unendlichkeit von C. Castaneda